Sportler für die Mittelschicht Ford Sierra XR4i - Sehnsucht Sechszylinder
12.12.2020, 16:10 Uhr
Einst eines der erschwinglichen Sechszylinder Modelle ist der Ford Sierra XR4i heute eine absolute Rarität. Mit seinen 35 Jahren ist er bereits ein Oldie, der aber bei einem Ausritt im Jetzt nichts von seinem Sportsgeist verloren hat. Nur ein Schnäppchen ist er heute nicht mehr.
Aus heutiger Sicht muss der Sierra XR4i dem geneigten Autoenthusiasten furchtbar luxuriös vorkommen, zumindest suggeriert das sein Antrieb. Denn vor knapp drei Liter großen Sechszylinder-Motoren in der Mittelklasse werden selbst Premium-Hersteller künftig zurückschrecken - in Zeiten, da jedes Gramm CO2 auf die Goldwaage gelegt wird, sind großvolumige Verbrenner purer Luxus, den man außerdem nicht mehr unbedingt zeigen mag.
Anders damals beim Sierra, der seine benzinmotorische Potenz komplett reuelos zur Schau stellt, wie es sich heute fast niemand mehr traut. Selbst die letzten ähnlich extrovertierten Straßen-Rallyeautos wie Mitsubishi Lancer Evo oder Subaru WRX wurden (zumindest in Europa) auf das Altenteil geschickt. Kleine Abrisskante, das geht noch - aber der XR4i gönnt sich gleich einen wuchtigen, zweistufigen Spoiler, der sogar einen Teil der Fließheck-Scheibe in Beschlag nimmt und das rückwärtige Einparken erschwert.
Äußerlich fast zierlich
Zunächst einmal wirkt der betagte Dreitürer für eine Mittelklasse recht zierlich, misst auch nur 4,46 Längenmeter und bereitet demnach keinen Kummer in Parkhäusern - und das ganz ohne Sensorik, die es damals weder für Geld noch gute Worte gab. Dafür piepste und blinkte es in dem mit einem kantigen Armaturenbrett gesegneten Ford an ganz anderer Stelle. Jedenfalls verfügten die teurer ausstaffierten Versionen, wozu der XR4i ja ohnehin gehört, über das aus dem eine Klasse höher positionierten Scorpio bekannte kleine Infofeld mit dem stilisierten Auto als Symbol.
Dort wird elektronisch angezeigt, ob man versehentlich eine Tür nicht richtig ins Schloss gezogen hat oder das Licht nicht mehr in Ordnung ist. In Zeiten, da in einem solchen Fall noch Glühbirnen auszutauschen waren, ein ganz sinnvoller Ratgeber. Und falls die Außentemperaturen so stark sanken, dass Glatteisgefahr bestand, wurde auch dies kundgetan - Features, die man seinerzeit in einem Mercedes selbst der teuersten Art vergeblich suchte.
Bei einer ersten Ausfahrt mit dem Oldie, meint es das Wetter noch gut, ermöglicht trockenen und damit griffigen Asphalt. Schließlich treffen 150 PS auf die Hinterachse eines nicht einmal 1,2 Tonnen schweren Gefährts. Man muss wissen: Im Jahr 1984, als unser XR4i-Testexemplar erstmals zugelassen wurde, fuhren nicht wenige Menschen in der Bundesrepublik noch mit ihrem 34 oder womöglich 50 PS starken Käfer durch die Gegend - in deren Augen muss der Sierra ein geradezu frivoler Potenzbolzen gewesen sein.
Freudvoll und ungestüm
Und heute? Nach dem Start fällt der Sechszylinder in einen sportiv-grummeligen Lauf. Ein paar Gasstöße, um sicherzugehen, dass alle Zylinder am Start sind, quittiert die Auspuffanlage mit energischem Tonfall. Das Fünfgang-Schaltgetriebe mit dem recht langen Hebel konterkariert das letzte Quäntchen Drahtigkeit, dafür trainiert jede Lenkrad-Umdrehung trotz Servounterstützung den Bizeps. Und los geht es, der Ford marschiert freudvoll ungestüm. Leichtfüßig kommt der Kölner auf Trab, reagiert prompt auf den Befehl des rechten Pedals und verortet das Fahren noch in die Schublade "Arbeit".
Gefühlt ereilt die Tachonadel des Super-Sierra die 100 km/h-Marke schneller, als die Zahl auf dem Papier vermuten lässt - aber 8,4 Sekunden waren damals ein Wert, den selbst teure, britische Zwölfzylinder-Sportwagen nicht besser hinbekamen. Doch den Sierra wirklich schnell zu bewegen, erfordert Können - nicht etwa, weil 150 Pferdchen so schwierig zu zähmen sind, eher, weil man aufpassen muss, die Straßenbegrenzungspfosten nicht mit dem Heck zu streifen oder womöglich schlimmere Hindernisse, wenn es zackig um die Ecke gehen soll. Insofern gilt: Finde den Grat, das Hinterteil mit Einzelradaufhängung und modernen Doppelgelenk-Schräglenkern (der Vorgänger Taunus besaß noch eine Starrachse) flink über die Landstraße zu scheuchen, aber verlasse dich nicht auf heute übliche Funktionen wie elektronische Regelsysteme - es gibt sie nämlich nicht.
Spaß auch abseits des Grenzbereichs
Doch der mit cW 0,32 ausgesprochen aerodynamische Sierra macht auch diesseits des Grenzbereichs Spaß, wenn der kräftige 2,8-Liter füllig anschiebt, der hier noch frei atmen darf ohne Katalysator und Turbolader. Und - Fünfganggetriebe sei Dank - dreht der Sechsender bei Richtgeschwindigkeit gar nicht so hoch, als dass man den Alltagsklassiker nicht auch mal auf einer längeren Distanz einsetzen könnte. Ganz zu schweigen vom tadellosen Raumgefühl selbst im Fond. So war das, wenn die Ingenieure noch ohne kompliziertes Sicherheitsregelwerk arbeiten durften. Andererseits möchte man mit dem jungen Oldtimer natürlich ungern in einen Unfall verwickelt werden.
Wenn die XR4i doch nur nicht so rar geworden wären, dass sie fast zu schade für den Praxiseinsatz sind. Einst ein guter Kumpel, den man dann und wann im Straßenbild sah, hat sich der Sierra im Allgemeinen und das Topmodell im Besonderen weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und ist mit viel Glück noch auf speziellen Events anzutreffen und natürlich in homöopathischen Dosen in den einschlägigen Internet-Verkaufsbörsen - aber auch das nur manchmal. Dann kann man einen ergattern zu mittlerweile deutlich fünfstelligen Preisen (XR4i). Das ist je nach Offerte mehr Geld, als ein zeitgenössischer Kunde für den Neuwagen hätte bezahlen müssen. Doch so einen Einser-Zustandskandidaten muss man, wie gesagt, erst einmal finden.